Kurhessen und der deutsch-französische Krieg
Bild: Carl Röchling: „Tod des Majors von Hadeln“ (Gravelotte, 18. August 1870) © gemeinfrei
Die geschichtliche Retrospektive heutiger Gedenktage ist in der Regel stark auf die kriegerischen Ereignisse der letzten 100 Jahre begrenzt. So werden in Gottesdiensten und Andachten des Volkstrauertages vorrangig den Opfern der beiden Weltkriege gedacht, zu denen innerhalb der heute lebenden Generationen eine gewisse emotionale Verbindung bzw. Erinnerung besteht.
So trauert auch jetzt noch der eine oder andere um den im II. Weltkrieg vermissten oder gefallenen Bruder, Vater oder die im Bombenkrieg getötete Mutter. Die Beziehung zu den Gefallenen des I. Weltkrieges dürfte auf Grund der langen Zeitspanne, die seit dem Ende dieses gewaltsamen Konflikts zurückliegt, vermutlich eher in einem geschichtlichen Interesse oder der heute modern gewordenen Ahnenforschung liegen.
Mit dem Untergang des nationalsozialistischen Faschismus setzte ein grundlegender Wandel in der Erinnerungskultur ein. Während frühere Gedenktage darauf ausgerichtet waren, bedingungslos das nationale Selbstbildnis zu er- und überhöhen, dient der heutige Volkstrauertag neben dem Gedenken der Kriegsopfer auch der Mahnung an gegenwärtige und kommende Generationen vor totalitären politischen Systemen, Rechtsextremismus, Krieg und Gewalt. Linksextremismus findet erstaunlicherweise dagegen bisher wenig Eingang in die allgemeinen Appelle zur Wachsamkeit.
Sichtbare Zeichen dieser Erinnerungskultur finden sich auch in der Schwalm in den meisten Kirchen sowie auf den dazu gehörenden Friedhöfen. Mahnmale listen die Namen und Sterbedaten von Teilnehmern des I. und II. Weltkriegs auf, detaillierte Namenslisten sind oft in den Eingangsbereichen der Kirchen angebracht. Gelegentlich finden sich aber auch Vermerke über Kriegsheimkehrer die das große Glück hatten, halbwegs wohlbehalten nach Hause zu kommen.
Je weiter man in der Geschichte zurückgeht, desto spärlicher werden die Hinweise auf die Opfer vorangegangener Kriege. Es scheint beinahe so, als ob diese völlig aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden sind. Vielleicht mag es heute nur einige Ahnenforscher und Geschichtsbesessene interessieren, wer aus Treysa, Ziegenhain oder den schwälmer Dörfern in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gezogen ist oder wer aus denselben (und anderen) Orten im Juli 1870 in einen bewaffnetet Konflikt mit Frankreich genötigt wurde.
Dies stimmt umso nachdenklicher, da die Erinnerung an die Geschehnisse der Vergangenheit nur denjenigen zur Mahnung gereichen kann, die Kenntnis über ihre nationale, regionale und örtliche Geschichte haben. Die reflexhafte Übernahme von Schuld ist dabei keineswegs angebracht - schuldig ist letztlich nur, wer eine Tat im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und wider besseres Wissen begangen hat. Unschuld entbindet dagegen jedoch nicht von Verantwortung – insbesondere von der Verantwortung daran mitzuwirken, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Auch in diesem Zusammenhang sei hier an der Deutsch-Französischen Krieg erinnert, dessen Beginn sich im Juli 2020 zum 150. Mal jährt:
Kurhessische Soldaten als Teil der preußischen Armee – wie kam es dazu?
In den Jahren 1867 und 1868 fasste Preußen die Kurfürstentümer Hessen, Nassau und weitere annektierte Gebiete zur preußischen Provinz Hessen-Nassau zusammen. Was äußerlich betrachtet nach massiver Unterwerfung klingt, stieß bei den Betroffenen nicht überall auf große Ablehnung. Die Kasseler Bevölkerung soll Berichten zu Folge dem preußischen Einmarsch eher positiv gegenübergestanden haben. Des Weiteren soll es innerhalb Kurhessens große Widerstände gegen ein militärisches Engagement für Österreich und damit gegen Preußen gegeben haben. (Bild: Das Kriegerdenkmal in Ziegenhain, eingeweiht am 6. August 1899)
So unterstellte sich beispielsweise das kurhessische Militär nur vier Tage nach dem Einmarsch Preußens freiwillig der preußischen Main-Armee (Plenefisch: Die preußischen Annexionen 1866). Mit der Eingliederung Kurhessens zur preußischen Provinz Hessen-Nassau war die hier lebende Bevölkerung dann auch für zukünftige Kriege Preußens militärisch „mit im Boot“. Und diese sollten nicht lange auf sich warten lassen.
Der Deutsch-Französische Krieg
Bereits im Sommer des Jahres 1870 zogen dunkle Wolken auf: Frankreich erklärte Deutschland den Krieg, da es sich von der sog. „Emser Depesche“ provoziert fühlte. Hintergrund der gereizten Stimmung war die Frage der spanischen Thronfolge. Frankreich befürchtet im Falle einer für sich ungünstigen Thronfolge-Regelung, dass sich das europäische Mächteverhältnis sehr zu seinem Nachteil verschieben könnte, wenn der von Preußen favorisierte Kandidat den Thron besteigen würde.
Die „Emser Depesche“ war dabei im Grunde nichts weiter als ein regierungsinternes Telegramm, das auf einem Schreiben des französischen Botschafters vom 13. Juli 1870 basierte. In diesem Schreiben forderte jener Botschafter König Wilhelm I. von Preußen auf, dafür Sorge zu tragen, dass zukünftig niemals mehr preußische Prinzen den spanischen Thron besteigen würden. König Wilhelm I. befand sich zu diesem Zeitpunkt zu einer Kur in Bad Ems.
Sein Diplomat Heinrich Abeken telegrafierte diesen Vorfall daraufhin an Otto von Bismarck (Kanzler und Außenminister des unter preußischer Führung stehenden Norddeutschen Bundes). Von Bismarck, der zu diesem Zeitpunkt einem Krieg gegen Frankreich im Interesse Preußens sehr viel Positives abgewinnen konnte, manipulierte das Telegramm in einem ihm gefälligen Sinne und fertigte daraus eine öffentliche Presseerklärung. Frankreich fühlte sich von dieser Presseerklärung massiv provoziert. Die unmittelbare Folge: am 18. Juli 1870 erklärte Frankreich seinem Nachbarn Preußen den Krieg.
Kurhessen - mittendrin statt nur dabei
Durch die vorangegangene preußische Annexion (1866) war das
Kurfürstentum Hessen militärisch an Preußen gebunden. Somit gab es für eine Beteiligung an einem Krieg gegen Frankreich für kurhessische Truppen kein Zurück: mehr als 18.500 Soldaten und knapp 440 Offizieren des Kurfürstentums zogen ins Feld.
Frankreich stand zu diesem Zeitpunkt unter der Regentschaft von Kaiser Napoleon III., der – wenn man den Berichten Glauben schenken mag – weder gesundheitlich noch unter Berücksichtigung seiner Führungsqualitäten in der Lage war, einen erfolgreichen Feldzug gegen Preußen zu führen. Er wurde in seinen Handlungen mehr oder weniger von seiner Ehefrau gelenkt und schließlich mit der Ausrufung der III. Republik Frankreichs am 4. September 1870 seines Amtes enthoben, nachdem seine Armee die Schlacht bei Sedan (1. September 1870) verloren hatte. Er ergab sich den preußischen Truppen und wurde nach Schloss Wilhelmshöhe in Kassel gebracht, wo er sich mit angemessenem Komfort bis zum 19. März 1871 unter Arrest befand. (Bild:© gemeinfrei)
Die Frankreich zu Kriegsbeginn gegenüberstehende Armee war augenscheinlich gut durchorganisiert und im preußisch-nationalen Interesse tief entschlossen, sich dem französischen Feind zu widersetzen. Der Kampf gegen Frankreich wurde zu einer existentiellen Frage der nationalen Ehre hochstilisiert und öffentlich entsprechend kommuniziert. Der allgemeinen Mobilmachung stand also aus Gründen des Nationalstolzes nichts mehr im Wege.