Sind die Toten unter uns?
Manche historischen Themen sind ein wenig „pikant“, und man überlegt zunächst, ob man sie überhaupt veröffentlichen sollte. Andererseits verschwinden Tatsachen nicht einfach dadurch, dass man sie verschweigt. So verhält es sich auch mit der Geschichte unserer Friedhöfe und Begräbnisstätten, von denen es heute oftmals keine sichtbaren Zeugnisse mehr gibt.
Besonders in Zusammenhang zu den sogenannten Wüstungen, also verlassenen und damit untergegangenen Dörfern, dürfte es eine Vielzahl ehemaliger Friedhöfe geben, von denen heute niemand mehr weiß, und die aus dem öffentlichen Bewusstsein gänzlich verschwunden sind. Gelegentlich finden sich in alten Urkunden und Flurkarten Hinweise auf dergleichen.
In den heutigen Zeiten der modernen Internetrecherche gibt es viele historische Quellen, auf die jeder Interessent kostenfreien Zugriff hat. Als besonders aufschlussreich erweisen sich dabei topografische Karten verschiedener Epochen. Sie werden unter anderem vom Landesgeschichtlichen Informationssystem (LAGIS) Hessen zur Verfügung gestellt.
Anhand dieser Quellen lassen sich bauliche und topografische Veränderungen über verschiedene Epochen direkt miteinander vergleichen. Genau bei diesen Vergleichen treten zuweilen Dinge in Erscheinung, die für eine gewisse Überraschung sorgen.
Das Kartenwerk „Kurfürstenthum Hessen“, Blatt Ziegenhain (1:25.000, aufgenommen von Hufnagel und Hildebrandt 1844 u. 1845) zeigt den topografischen Zustand unserer Heimat in den hier angegebenen Jahren. Naturgemäß hat es von damals bis heute ganz gravierende Veränderungen gegeben. Straßen sind neu- und ausgebaut oder verlegt worden, und Ortschaften haben sich erheblich vergrößert. Die drastische Zunahme der Bevölkerung und der steigende Bedarf nach mehr Wohnraum und Industrieflächen machte dies erforderlich.
Dieser Prozess setzt sich auch heute noch beinahe ungebremst fort. Allerdings wird erwartet, dass das Bevölkerungswachstum bis zum Ende dieses Jahrhunderts seinen Höhepunkt überschritten hat und die Weltbevölkerung dann deutlich geringer wird. Kriege und weitere Pandemien könnten diese Entwicklung erheblich beschleunigen.
Auch die Städte und Dörfer der Schwalm sind stark expandiert: im Vergleich zur Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich beispielsweise die Fläche von Treysa (geschätzt) bis zum heutigen Tag wenigstens verzehnfacht. Mit der Zunahme der Bevölkerung stieg natürlich auch die Anzahl der Todesfälle. Der damalige Stadtfriedhof, rund um die Kirche St. Martin (Totenkirche) gelegen, wurde damit zu eng.
Der bekannte Ortshistoriker Bernd Raubert (Stadtgeschichtlicher Arbeitskreis e.V. Schwalmstadt-Treysa, Foto rechts) berichtet dazu: „Die Überbelegung auf dem Friedhof um die Totenkirche hatte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dramatische Ausmaße angenommen. Daher entschloss man sich im Jahre 1832 zu einer Neuanlage unweit der Mainzer Brücke am Ulrichsweg.
Wegen der Ausdehnung und erheblichen Erweiterung des Bahngeländes (Neubau der Nebenstrecken nach Malsfeld und Bad Hersfeld) musste dieser Friedhof allerdings schon nach 20 Jahren aufgegeben werden. Es kam dann zu der Neuanlage des heutigen noch in Gebrauch befindlichen Friedhofes ‚Auf dem Zinn‘. Am 8. Mai 1852 fand die erste Beisetzung statt“.
Doch wo war der im Jahre 1832 angelegte Friedhof eigentlich genau? Ein Blick auf die historischen Karten gibt Aufschluss: seine größte Ausdehnung hatte er zwischen dem Steinkautsweg - beginnend mit der baulichen Rückseite des Amtsgerichts - und zog sich bis in die Mitte des heutigen Bahnsteiges zwischen den Gleisen 2 und 3 auf dem Treysaer Bahnhof. Seine Fläche dürfte etwa 7000 m² betragen haben, was nicht gerade klein für die damaligen Verhältnisse war (siehe Karte unten).
Natürlich musste die Erde – und mit ihr der Teil des dort gelegenen Friedhofes – zu Erweiterung des Bahnhofs umfassend beseitigt werden. Das Bahngelände liegt bekanntlich heute erheblich tiefer. Anders sieht dies jedoch für den Bereich zwischen Ulrichsweg und Steinkautsweg aus. Und hier bekommt die ganze Sache einen etwas pikanten Beigeschmack.
Nach derzeitigem Kenntnisstand wurden die noch vorhandenen Gebeine umgebettet und das Gelände schließlich im 20. Jahrhundert zur Bebauung durch Privatleute freigegeben. Ein Teil der neuen Grundstücksbesitzer hat wohl um die frühere Nutzung als Friedhof gewusst. Natürlich könnte man jetzt die Frage stellen, ob „ein Teil“ am Ende „alle Grundstücksbesitzer“ heißt. Das sei aber mal dahingestellt...
Letztlich liegt es in der Natur der Sache, dass bei einer Friedhofsverlegung bzw. Umbettung von Gräbern nicht alle Gebeine geborgen werden können. Daher gibt es auch Überlieferungen, wonach der eine oder andere Freizeitgärtner zwischen Ulrichs- und Steinkautsweg beim Umgraben auf menschliche Überreste gestoßen ist.
Karte oben: der alte Treysaer Friedhof zwischen den heutigen Straßen "Steinkautsweg" und "Ulrichsweg" (roter Punkt),
sowie der neue, heute noch existente Friedhof (schwarzer Punkt).
Karte oben: der alte Ziegenhainer Friedhof, an der Landgraf-Philipp-Straße gelegen.
Quelle: „Kurfürstentum Hessen 1840-1861 – 52. Ziegenhain“, in: Historische Kartenwerke
Wie dem auch sei, das Phänomen der Umnutzung alter Begräbnisstätten und ihrer Flächen ist weit verbreitet und begrenzt sich natürlich nicht alleine auf Treysa. Auch Ziegenhain hat die Nutzung seines alten Friedhofes aufgegeben. Dieser lag in der Landgraf-Phillipp-Straße neben dem Gelände der späteren Landrats-Villa und erstreckte sich in Nord-Süd-Ausrichtung (siehe Bild unten).
Bei der Überlagerung von historischen Karten und modernen Luftbildern wird ersichtlich, dass der Friedhof teilweise mit einem Parkplatz und einem Haus (vermutlich heute in Nutzung der Ziegenhainer Kirmesburschen) überbaut wurde. Seine Größe dürfte gute 3000 m² betragen haben.
Der wesentliche Teil des ehemaligen Friedhofs ist nach wie vor frei zugänglich. Er hat eine relativ unebene Oberfläche, was wahrscheinlich von eingesunkenen Gräbern verursacht wurde. Kreuze, Grabsteine oder ähnliches sind nicht mehr vorhanden, allerdings stehen dort einige sehr große und alte Bäume, wie man sie häufig auf Friedhöfen trifft.
Bild oben: das Gelände des alten Ziegenhainer Friedhofs heute (Blickrichtung Hansterbrückchen).
Heute überbaut ist auch der frühere Friedhof bei der evangelischen Kirche in Loshausen. Aktuellen Satellitenaufnahmen nach zu urteilen, dürfte sich auf dem Gelände (von einer kreisrunden Straße umgeben) Gartenland und angrenzende Gebäude befinden.
Andere Begräbnisstätten sind ohne spezielle Recherche nicht mehr leicht auffindbar – so beispielsweise der Friedhof auf dem Standortübungsgelände, nordwestlich der Knüll-Kaserne bei Schwarzenborn. Dieser war Teil der früheren Lungenheilstätte „Am Knüll“, die 1948 eröffnet wurde und dort bis in die 1960er Jahre existierte. Die frühere Stelle des Friedhof ist zwar noch bei Google Maps/Earth markiert (nicht bei OpenStreetmap), vor Ort ist dagegen nichts mehr von einer Begräbnisstätte erkennbar. Lediglich alte wuchernde Zierbäume (Koniferen), die man üblicherweise in Gärten und auf Friedhöfen anpflanzt, sind noch auffindbar (siehe Bild unten).
Karte oben: Lage des früheren Friedhofs der Lungenheilstätte "Am Knüll", nordwestlich der Kaserne Schwarzenborn, eingezeichnet auf
einer topografischen Karte aus dem Jahr 1970. Quelle: Historische Topografische Karten (Open Data). Georeferenzierung und Bereitstellung:
Hessisches Institut für Landesgeschichte (HIL).
Bild oben: an dieser Stelle befand sich der Friedhof der Lungenheilstätte "Am Knüll". In der Bildmitte und rechts sind wuchernde Koniferen zu erkennen.
Weniger bekannt ist auch der ehemalige Gefangenenfriedhof des Zuchthauses Ziegenhain, südwestlich unterhalb des Krankenhauses gelegen (siehe auch Karte unten). Dieser Friedhof soll im Wege des Neubaus der B254 am Kottenberg zum Ende der 1960er Jahre beseitigt worden sein. Dennoch wurde er bis in die 1990er Jahre in topografischen Karten eingezeichnet. Er ist mittlerweile vollständig zugewuchert, und nichts erinnert mehr an eine Begräbnisstätte.
Bild oben: der ehemalige Friedhof des Zuchthauses Ziegenhain. Er ist vollständig in der Vegetation verschwunden.
Karte: Lage des Zuchthausfriedhofs am Ziegenhainer Kottenberg, eingezeichnet auf einer topografischen Karte des Jahres 1955. Quelle:
Historische Topografische Karten (Open Data). Georeferenzierung und Bereitstellung: Hessisches Institut für Landesgeschichte (HIL).
Nicht mehr genutzt, aber in gutem Zustand ist der jüdische Friedhof in der Feldgemarkung Ziegenhain. Zunächst bis 1850 auch durch die Treysaer jüdische Gemeinde genutzt, wurden danach nur noch Verstorbene aus Ziegenhain dort beigesetzt, zuletzt 1946/47. In seiner Geschichte kam es bereits zu Schändungen und Brandanschlägen, weshalb ich hier auf die Veröffentlichung seiner genauen Lage verzichte. Der Friedhof liegt hinter einem verschlossenen Tor und ist von einem Zaun umgeben. Besucher erhalten den Schlüssel gegen Vorlage des Personalausweises bei der Stadtverwaltung Schwalmstadt.
Bild oben: Der Zugang zum jüdischen Friedhof Ziegenhain. Der Schlüssel für das Tor ist bei der Stadtverwaltung Schwalmstadt
gegen Vorlage des Personalausweises erhältlich.
In der neueren Dorfgeschichte kam es andernorts mehrfach zur Verlegung der örtlichen Begräbnisstätten. Der heutige Friedhof in Leimsfeld, der sich parallel zur B254 am Ortsausgang in Richtung Frielendorf findet, ist bereits die dritte „Station“ in der Dorfgeschichte. Während bis zur späten Mitte des 19. Jahrhunderts die Beisetzungen rund um die Dorfkirche erfolgten, fanden diese ab 1863 (mündlichen Berichten zufolge bereits auch schon 100 Jahre früher) am nordöstlich Dorfrand statt. So war es auf einem Jahresstein am früheren Friedhofseingang zu lesen.
Allerdings wurde dieser Friedhof um 1932/33 erneut verlegt, an seinen heutigen Ort. Der ursprüngliche Friedhof um die Kirche (Ortsmitte) ist vollständig verschwunden. Dies geschah im Rahmen der Kirchenrenovierung, bei der auch die das Gebäude kreisrund umgebende Mauer und die noch vorhandenen Grabstellen beseitigt wurden. Heute befindet sich die Fläche unter Beeten und Asphalt.
Die Leimsfelder Kirche heute: die alten Gräber lagen innerhalb der kreisrunden Kirchenmauer (siehe unten) und sind mit dem Abbruch vollständig verschwunden.
Spurlos verschwunden sind auch zwei historisch interessante Grabsteine aus dem 18. Jahrhundert, die bis zum Umbau bzw. bis zur Sanierung
des Kirchengebäudes (1969/1970) dort lagen.
Bild oben: Luftaufnahme der Leimsfelder Kirche aus den 1960er Jahren. Abbildung aus dem Buch "Leimsfeld 1197 - 1997"
von Friedrich Fenner (†) und Heinz Effenberger. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Ältere und ortsgeschichtlich interessierte Einwohner berichten, beim Mauerabbruch und Erdabtrag hervorgetretene Knochen und die dazugehörige Erde seien in eine Hohle am Ortsrand gefahren worden, wo sie sich heute noch befänden. Dass im Zuge der Friedhofsbeseitigung zwei Jungs mit menschlichen Knochen auf dem Fahrradgepäckträger erwischt wurden, darf man auch einfach mal humorvoll sehen – zumal ihnen diese von einem Erwachsenen gleich wieder abgenommen wurden.
Eine bereits verstorbene Person aus dem Dorf erzählte vor vielen Jahren, sie habe die Friedhofserde damals teilweise in ihrem Garten untergearbeitet und damit beachtliche Wachstumsergebnisse erzielt. Dem Zeitalter von Friedwäldern war sie offensichtlich schon einen halben Schritt voraus.
Festzuhalten bleibt, über alte Friedhöfe wurde am Ende zuweilen Asphalt gelegt, es wurden Häuser darüber gebaut, es wuchsen darauf Bäume, und es ist Gras darüber gewachsen. Und sie sind in Vergessenheit geraten, was eigentlich sehr schade ist. Vielleicht wäre es aus Gründen der Pietät eine Gedanken wert, dort wenigstens eine Inschrift auf einer Gedenktafel anzubringen. Denn an diesen Orten liegen oft nicht "irgendwelche" Tote, sondern unsere Vorfahren, ohne die wir heute nicht hier wären.
Doch damit zurück zur eigentlichen Fragestellung: Sind die Toten unter uns? Die Antwort wurde bereits gegeben: letztlich kommt es immer darauf an, wo und wie tieft man gräbt...
Bild oben: der alte Leimsfelder Friedhof am Dorfrand. Von ihm ist nicht mehr geblieben, als eine grüne Wiese. Hier sollen bereits im 18: Jahrhundert Beisetzungen von Bessergestellten stattgefunden haben. Im Zuge der Aufgabe des Friedhofes wurden die Grabsteine etc. beseitigt und in die Hohle gefahren, auf der heute der Bolzplatz unterhalb des neuen Friedhofs liegt. Eine Umbettung der Toten hat nicht stattgefunden.
Danksagung:
Einmal mehr möchte ich Herrn Bernd Raubert (Stadtgeschichtlicher Arbeitskreis e.V. Schwalmstadt-Treysa) ganz herzlich für seine Unterstützung bei der Entstehung dieses Artikels danken. Selbiges gilt für die freundliche Unterstützung von Herrn Heinz Effenberger und Herrn Bernd Heer (beide Leimsfeld).
Bilder-Galerie unten: bei der Treysaer St. Martin Kirche (Totenkirche) und der Kapelle Schönberg (Schrecksbach) findet man historische Grabsteine.