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Rörshain, 24. März 1945, 17:16 Uhr

Maria Rindt (54 Jahre) hat sich an diesem Nachmittag in die Nähe des Friedhofs begeben, um dort auf einem Stück Land zu säen. Das beinahe makellose Frühlingswetter lässt zunächst nichts böses ahnen. Während ihrer Arbeit bemerkt sie das langsam anschwellende Donnern der Flugzeugmotoren. Als sie erkennt, dass aus den Maschinen Bomben herabregnen, lässt sie ihr Arbeitsgerät fallen und flieht. Ihr Weg führt sie über das Friedhofsgelände. In extrem schneller Abfolge kommen die Einschläge näher.


Die Luft ist angefüllt mit ohrenbetäubenden Explosionslärm. Die Splitter und Druckwellen zerreissen alles, was ihnen im Weg steht. Der Friedhof erhält mehrere Volltreffer. Als eine der  Bomben in unmittelbaren Nähe von Maria Rindt einschlägt, wird sie von einer gewaltigen Erdmasse begraben. Vermutlich ist sie sofort tot. Nach dem Angriff vermisst man sie lange Zeit, ihre Eltern Hans Heinrich und Anna Katharina Schäfer (Rörshain) ahnen bereits, dass ihre Tochter nicht mehr lebt. Erst am 12. Juni 1945 scharrt ein Hund an der Stelle, an der sie verschüttet liegt. Ihr Leichnam wird geborgen. 


Bilder (v.l.n.r): Splittergraben, Bombentrichter und Reste einer befestigten Stellung im Wald

In einem Graben am Ortsrand zwischen Rörshain und dem Einsatzflugplatz sind die gerade in der Nähe befindlichen Menschen ist Deckung gegangen. Auch hier verschüttet ein Naheinschlag mehrere Schutzsuchende. Einige können sich befreien, Agatha Elisabeth Lohrang geb. Dilschneider aus Merchingen/Saarland (54 Jahre, wohnhaft: Haus 25, Rörshain) erstickt unter der Erde. Standesamtliche Eintragung der Todesursache: “Tod durch Verschüttung infolge Feindeinwirkung”. 


Die Häuser des Dorfes Rörshain schwanken und beben unter den Druckwellen. Fensterscheiben bersten auch in den umliegenden Dörfern Allendorf und Michelsberg. In Rörshain fliegen zerborstene Dachziegeln wie Schrapnelle durch die Luft, Häuser werden förmlich angehoben und Mauern sacken in sich zusammen. Eine Bombe trifft einen Fachwerkhof und beschädigt die kleine Kirche, beide werden dabei teilweise bzw. vollständig zerstört, weitere Gebäude im Dorf werden in Mitleidenschaft gezogen. In ihrer Wohnung (Haus 3) wird Ingeborg Wagner geb. Effert (37 Jahre) aus Kassel getötet. Im selben Haus stirbt Anna Elisabeth Völker (47 Jahre). Die standesamtlichen Eintragungen der Todesursachen lauten: “Tod durch Bombenvolltreffer bei Fliegerangriff”. Insgesamt sterben im Dorf sechs Menschen. Ein französischer Fremdarbeiter nutzt das Chaos des Luftangriffs und flieht. 


Eine Zeitzeugin berichtet: “Ich war damals hochschwanger. Wir waren nachmittags im Garten, es war ein herrlicher Frühlingstag. Das Näherkommen der Motoren war zu hören. Stimmen riefen plötzlich herüber ‘macht Euch in den Keller!’ Ich habe alles stehen und liegen gelassen, wir sind sofort losgerannt. Dabei bemerkte ich, dass nicht nur Bomben fielen, sondern auch mit Maschinengewehren von oben geschossen wurde. Es war fürchterlich. Nach dem Angriff lagen auf den Wiesen zerrissene Rinderkadaver. Man hat sie in die Bombentrichter geworfen und zugeschaufelt. Das war eine schreckliche Zeit.”



Alliierte Luftaufnahmen zeigen später, dass im engeren Ortsbereich von Rörshain 13 Bomben eingeschlagen sind. Davon erhielt das Friedhofsgelände 5 direkte Treffer. Zwei Höfe in der Straße “Am Hofacker” wurden durch jeweils eine Bombe getroffen, die gleichzeitig auch die Kirche schwer beschädigten. Im Bereich zwischen “Flachsröste” und “Hinterbergsweg” und rechts der “Kellerwaldstraße” (Blickrichtung Ortsausgang Wolfhainsiedlung) schlugen jeweils 3 Bomben ein. In den direkt an das Dorf angrenzenden Bereichen (süd-westlich und nord-östlich) konzentrierte sich zudem eine große Anzahl von weiteren Einschlägen.


Die Auswertung der Bombentreffer zeigt darüber hinaus, dass Allendorf/Landsburg nur knapp dem gleichen Schicksal wie Rörshain entgangen ist. Dort sind jedoch nur wenige Bomben eingeschlagen. Die langgezogene, parallel zum Dorf verlaufende Spur der Einschläge reicht auf etwa 150 Meter an Allendorf heran (getroffen wurde u.a. das heutige Grundstück des dem Ort am nächsten gelegenen Aussiedlerhofes im Lacheweg) und zieht sich in nord-nord-östlicher Richtung auf Michelsberg zu, endet jedoch deutlich vor der dortigen Ortslage. Der Bombenabwurf verfehlt sein Ziel um etwa 700 Meter nach links, was selbst unter Gefechtsbedingungen als eher stümperhafte Leistung betrachtet werden darf. Über die Verursacher schweigt sich der taktische Einsatzbericht aus - der Grund lässt sich erahnen. Dem bzw. den betroffenen Bombenschützen dürfte bei der Beobachtung der Einschläge in jedem Fall klargewesen sein, dass sie in Allendorf beinahe viele unschuldige Zivilisten getötet hätten. 



Über die Situation auf dem Feldflugplatz während des Angriffs ist bisher nichts genaues bekannt. Es darf angenommen werden, dass die Soldaten Deckung in den Munitions- und Schutzbunkern im Wolfshain (süd-westlich) gesucht haben. Angaben über Opfer liegen nicht vor, jedoch erhielten die zahlreichen Mannschaftsbaracken im Wald hinter der Wolfhainsiedlung und die Kommandanturgebäude keine Bombentreffer.  Die meisten Flak-Stellungen haben den Angriff unbeschadet überstanden, insbesondere bei den Stellungen westlich und nördlich des Platzes schlugen Bomben jedoch in unmittelbarer Nähe ein.  



Die Ju 87 “Stukas” der Nachtschlachtgruppe 2 standen nach Angaben einer Zeitzeugin getarnt im Wald nordöstlich des Flugplatzes. Auch hier gibt es heute noch sichtbare Splittergräben, allerdings auch Bombentrichter und Naheinschläge. Nachdem der Platz durch die Bombardierung unbrauchbar wurde, sollen diese Flugzeuge an oder auf der Landstraße nach Michelsberg gestartet sein - möglicherweise, um dem abfliegenden Bomberverband nachzusetzen


Bild: Trichter eines Bombeneinschlags in etwa 5 Metern Entfernung zu einem Splittergraben (ganz rechts)

Der Rückflug

Laut Tagebucheintrag eines an dem Angriff teilnehmenden Besatzungsmitgliedes verliert die Formation angeblich drei Flugzeuge durch Flakbeschuss, möglicherweise in der besser gesicherten Gegend des Rheins (Quelle: Diary Pilot 2nd Lt. Merlin N. Larsen, Mission 11, March 24 1945). Unter Umständen verwechselt er jedoch den genannten Verlust mit dem Einsatzabbruch von drei Maschinen wegen technischen Defekten zu Beginn der Mission. 


Auf Funkanweisung der britischen Anflugkontrolle werfen Teile des Verbands wegen technischer Probleme schließlich 28 Stück 500 Pfund-Bomben in den englischen Kanal, da eine Landung damit zu gefährlich erscheint. Zwei Flugzeuge der 390th BG bringen ihre gesamte Fracht bestehend aus 150 Pfund-Bomben zurück nach England (insgesamt 76 Bomben). Der Verband überquert die englische Küste bei Southwold. Gegen 20 Uhr treffen die Flugzeuge auf ihren Stützpunkten ein. Den Besatzungen steht in England eine ruhige Nacht bevor. Ähnlich den Bomberbesatzungen des verheerenden Bombenangriffs auf Dresden wähnen sie sich in der Gewissheit, auf der Seite des Guten und Gerechten zu stehen. In Rörshain herrscht zur gleichen Zeit tiefes Entsetzen.


Bilder (v.l.n.r.:) amerikanische B-17 und B-24 Bomber (© gemeinfrei)